Zur Idee im Detail:
The classroom remains the most radical space of possibility (bell hooks)
Die Night School ist eine experimentelle Abendschule, in der von minoritären und marginalisierten, rebellischen und verletzlichen Positionen aus gedacht, gelehrt und gelernt wird. Diese kleine Schule öffnet jede Woche ihre Türen, um sich in hegemoniale Wissensregime einzumischen. Auf dem Lehrplan stehen Formen, Körper, Methoden, Standpunkte, Geographien und Fantasien, die zu dem beitragen können, was man Dekolonisierung von Wissen und Lernen, vielleicht auch Popular Education und hoffentlich Pedagogies of Possibility nennen kann. Also Bildung, die gegen das Mantra der Alternativlosigkeit auf dem Möglichen besteht.
Wir beziehen uns programmatisch auf die in aller Welt verbreiteten Abendschulen, eine der ersten Europas wurde 1925 in Wien gegründet, zunächst als „Mittelschulkurs sozialistischer Arbeiter, von Wanda Lanzer, der 25 Jahre in Schweden exilierten, Protagonistin des Roten Wien und der Arbeiterbewegung. Es sind Schulen für Arbeiterkinder und Schulabbrecher, Hausfrauen und Angestellte am zweiten Bildungsweg, geflüchtete Akademikerinnen, in die Sonderschulen abgeschobene Migrantinnen oder Arbeitslose. Also für alle, die für bildungsfern gehalten werden – und vielmehr von Bildung ferngehalten werden.
Die „Teaching Machine“ (Gayatri Spivak) trägt nun selbst dazu bei, diese sozialen Abstände und Ungleichheiten aufrecht zu erhalten. Schonungslos untersucht hat das etwa der Soziologe Pierre Bourdieu, der den „Mythos der befreienden Schule“ entlarvt und beschreibt, wie in der Schule bis in die Körper hinein die herrschende Ordnung eingeübt wird. Dazu gehört etwa, dass die Klasse zumeist ein „knallweißer Raum“ (Araba Johnston-Arthur) ist, in dem andere Körper, Subjekte, Ideen bestenfalls als Exotika vorkommen. So hat schulische Bildung auch eine lange Geschichte der Komplizenschaft mit dem imperialen und kolonialen Projekt. Und immer noch gilt, so gerne es übersehen wird: „Rassismus bildet“ (Paul Mecheril), gerade auch in der neoliberalen Ära. Über die Allianzen von Kapitalismus, Kolonialismus, Rassismus und Sexismus nicht zuletzt in der Schule, werden alle der Eingeladenen, Lehrende und Lernende, etwas zu sagen haben.
Und trotzdem alledem, die Night School setzt auf die Schule. Da sie diese als Ort versteht, in dem die ungerechte und gewaltsame Ordnung nicht nur bestätigt, sondern auch überdacht werden kann, in dem über das Bestehende hinaus gedacht werden kann, als einen Ort nicht nur der Aufrechterhaltung, sondern der Veränderung von mächtigen Verhältnissen. Für diese andere Schule und auch Akademie wird gekämpft, in vielen Klassenzimmern, von engagierten Pädagog*innen, von Aktivist*innen, von der Bewegung der Sekundarschüler in Brasilien, der Kampagne gegen weiße Curricula in Großbritannien, den Schüler- und Studentenprotesten in Südafrika, Chile, Uni brennt in Österreich, oder der No Debt-Bewegung gegen die Ökonomisierung von Bildung.
Wie eine emanzipatorische, transformierende Bildung gestaltet werden kann, darüber wurde und wird in den verschiedenen Traditionen und Theorien der Popular Education und der Critical Pedagogy nachgedacht, von Paulo Freire, Gayatri Spivak, Frigga Haug, bell hooks, Rubia Salgado, Antonio Gramsci, Marina Gržinić, Lefö, Sara Ahmed, Grada Kilomba, Belinda Kazeem, trafo k. mit Renate Höllwart, Elke Smodics, und Nora Sternfeld, Ruben Gaztambide-Fernández, Janna Graham, Nikita Dhawan, Rangoato Hlasane, Elke Krasny, Peggy Piesche, Nora Landkammer, Maria do Mar Castro Varela, Carmen Mörsch, Paul Mecheril (um einige Referenzen der Night School zu nennen); das wurde seit mindestens hundert Jahren ausprobiert in Arbeiterbildungsvereinen, Schulen der Landlosen, Alphabetisierungskursen, Volkshochschulen, indigenen Universitäten, anarchistischen Akademien, alternativen Schulen, Community Colleges, Campus in Camps, We Are Here Academy, die Universidad de la Tierra der Zapatisten und so vielen anderen mehr.
Die Night School ist ein Lehrgang, in dem Pädagog*innen, Kollektive, Künstler*innen, Aktivist*innen, Initiativen, Theoretiker*innen unterrichten, die zuallerst fragen: Was wird als Wissen anerkannt? Wer entscheidet, was Wissen ist? Und wer profitiert von dieser Entscheidung? Was sind andere denkbare Formen von Wissen? Sie ist ein Kurs, in dem klar ist, dass Denken situiert ist in konkreten Erfahrungen, Verhältnissen, Körpern, Subjekten und dass, wenn es ans Wissen geht, eines gilt: class matters, body matters, geography matters, race matters, gender matters, race matters, ability matters, sexuality matters, affect matters, kurz power matters.
Es ist kein Geheimnis, dass Wissen mit Macht liiert ist und Herrschaft herstellt und absichert. Und dass Wissensproduktion mit Gewalt einhergeht, die anderes, subalternes, aufsässiges, stotterndes, erlittenes, monströses, suspektes, schmutziges Wissen herabwürdigt, vernichtet oder verleugnet. Was „von oben“ mit unbequemem Wissen gemacht wird, wurde als „epistemische Gewalt“ beschrieben, also Gewalt, die gegen Wissen oder durch das Wissen selbst ausgeübt wird. Nicht zu vergessen ist dabei, dass auch Nicht-Wissen Macht bedeutet oder besser erhält – Spivak nennt das „gestattete Ignoranz“.
„Eine kritische Praxis muss dagegen in der Lage sein, das Nichtgedachte der dominanten Diskurse zu denken, und denen hören, die zur Zielscheibe epistemischer Gewalt werden.“ (Nikita Dhawan und María do Mar Castro Varela)
Für die Night School bedeutet das, von gelebter und verkörperter Erfahrung aus zu denken und zu lernen, von der täglichen Erfahrung von Beschämung, Wut, Ironie, Fantasie, Widerstand. Es geht um Vorstellungen, wie ein Dagegen und ein Zusammen zu denken und zu machen ist – intellektuell, imaginär, affektiv, körperlich, existentiell. Es geht um Möglichkeiten von Bündnissen und Zerwürfnissen und die Bedingungen für ein kollektives politisches Denken und Handeln.
Der Plan der Night School, ganz auf minoritäre und marginalisierte Standpunkte zu setzen, bedeutet nicht, diese zu idealisieren. Es heißt genauso wenig unterdrücktes Wissen zu romantisieren und herrschendes zu ignorieren. Jedes Wissen muss genau kritisch überprüft und weiterentwickelt werden. Wir halten es hier mit der Autorin Anzaldúa: „Es genügt nicht, am anderen Ufer zu stehen, und Fragen aufzuwerfen, und patriarchale, weiße Konventionen herauszufordern … Auf unserem Weg zu einem neuen Bewusstsein werden wir an einem bestimmten Augenblick das andere Ufer verlassen, und die Trennung zwischen zwei tödlichen Kämpferinnen irgendwie heilen müssen, um auf beiden Ufern zugleich zu sein und zugleich mit den Augen der Schlange und des Adlers zu sehen.“ (Übers. Tom Waibel)
Wir hoffen, dass die Night School einige Momente herstellen kann (mehr als Momente können es in einem so kompakten, experimentellen Format nicht sein), in denen ein Verlernen gelingt – von Gewissheiten, Übereinkünften, Machtverhältnissen, Glaubenssätzen, Privilegien. Einfach und schnell ist das nicht zu haben und muss viel mehr sein, als ein Ritual, durch das man sich seiner Macht und Privilegien mit narzisstischem Gewinn zu entledigen glaubt. Dem Verlernen mittlerweile etwas skeptisch gegenüber, setzt die Erfinderin Spivak auch auf weitere Konzepte: auf ein „lernen, von unten zu lernen“ und eine „zwanglose Neuordnung von Begehren“ – allen voran jenem Begehren zu regieren oder regiert zu werden.
Marissa Lôbo, Catrin Seefranz